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Gedichterbe

by AGF & Various

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1.
II das war der anfang meines lebens und nun folgt der zweite teil. vielleicht beginne auch ich das karussell zu lieben wie constance die starb in eine straßenbahn laufend im endlich erreichten freiberg im breisgau beim holen von frischen brötchen. manche menschen legen großen wert auf frische brötchen. die dichter haben das nie gemacht. immer haben sie staunend auf den brötchenberg auf ihrem frühstückstisch geblickt. fahren jetzt die bullen im lada vorbei fragen sie sich ob ich da bin und schaut einer nach oben zu meinen fenstern? ich bin sicher: irgendwo hat ein computer die verbindung hergestellt zwischen mir und meinem freund micha k. mit dem ich in berlin-pankow in eine klasse ging in einer eliteschule und ich muß ihr gerecht werden so wie er gerecht werden muß seinem großvater nach dem in dieser stadt eine straße benannt ist. und wir brauchen uns nicht auf die alten generäle zu verlassen wir können selbst etwas machen verbunden durch den computer. ideale und elektronik sind unabdingbare voraussetzungen unseres lebens. wo ist er? in moskau peking beirut washington? hat er noch seinen alten namen und die brille oder trägt er kontaktlinsen? mit einer moralischen tat schwingt man sich in den computer in das elektronische netztwerk aus dem man nie wieder verschwinden kann – jeder der etwas gegen computer hat begreift den geheimdienst nicht. radio: filmfestspiele in westberlin ein regisseur aus ostberlin versucht die phantastische unterscheidung von weltanschauung und politik. in weltanschaulichen fragen könne man sich streiten in politischen nicht dieses kunststück scheint er vorgeführt zu haben in seinem film einer trage des andern last. rauchen bis das herz schmerzt. das leben geht weiter. wir müssen uns selbst helfen das leben geht immer weiter… aber es ist gut einen starken baum im wald zu haben wie die förster wissen schrieb der in dieser stadt katholisch erzogene andreas vincent der im forst arbeitet weil er sonst gestorben wäre den strick hatte er schon für den suizid kommt vor. wenn der druck zu groß ist noch einmal die vorletzte zigarette, aber ich habe noch tabak und papier ich kann zigaretten drehen bis morgen früh. die geschichte wird von den massen gemacht in denen ich schwinge weil ich gelernt habe auf die kleinsten regungen der straße zu achten im radio meldungen von der olympiade stimmen von ski-champion im dialekt joe cokker singt. ich trinke wein. Heidemarie Härtl, Auszug aus: Die Strasse, 1986
2.
Bettina von Arnim (1785-1859) [Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt!] Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt! Hinab ins Tal, mit Rasen sanft begleitet, Vom Weg durchzogen, der hinüber leitet, Das weiße Haus inmitten aufgestellt, Was ist's, worin sich hier der Sinn gefällt? Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt! Erstieg ich auch der Länder steilste Höhen, Von wo ich könnt die Schiffe fahren sehen Und Städte fern und nah von Bergen stolz umstellt, Nichts ist's, was mir den Blick gefesselt hält. Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt! Und könnt ich Paradiese überschauen, Ich sehnte mich zurück nach jenen Auen, Wo Deines Daches Zinne meinem Blick sich stellt, Denn der allein umgrenzet meine Welt. http://www.wortblume.de/dichterinnen/huegwelt.htm
3.
http://www.wortblume.de/dichterinnen/ritt071.htm Anna Ritter (1865-1921) Ich wollt', ich wär' des Sturmes Weib Ich wollt', ich wär' des Sturmes Weib, Es sollte mir nicht grausen, Auf Felsenhöhen wohnt ich dann, Dort, wo die Adler hausen. Die Sonne wäre mein Gespiel, Die Winde meine Knappen, Mit dem Gemahl führ' ich dahin Auf flücht'gem Wolkenrappen. Frei würd' ich sein und stolz und groß, Die Königin der Ferne, Tief unter mir die dumpfe Welt Und über mir die Sterne!
4.
Ann Cotten 1982 / Rosa Meinung − AGF
5.
Abschied Du riefst mich noch einmal zurück Weil ich vergaß, Lebewohl zu sagen. Noch einmal fand ich deinen Blick Und wandte mich und ging zum Wagen. Wie oft sah ich dies Bild vor mir, Du lächelnd, ja beinah heiter, Ein letztes Mal stand ich vor dir, Ein Händedruck und dann – nichts weiter. Ich musste gehen und wusste schon, Mein Schritt ging deiner Welt verloren Ich hatte noch den warmen Ton, Den Klang der Stimme in den Ohren. Auf Wiedersehen, sagtest du, Ich nickte, wollte dir nicht wehren, Und wusste doch so gut wie du, Ich würde lange Zeit nicht wiederkehren. (aus Edetraut Eckert: Jahr ohne Frühling. Die Verschwiegene Bibliothek, Büchergilde Gutenberg, Frankfurt 2005, S.9; Entstehung des Gedichts wahrscheinlich im Juni 1950)
6.
drei bögen : bougainville 0 vertüpfelter morgen, wie er unterm nebel aufsteigt wies unterm löschblatt durchweicht, wasserfarben hang aus blattspitzen und hang zu zipfelndem tüll schält sich ein ästlein aus dem kostüm, hat keinen körper, streckt sich, besinnt sich auf (grün) und die nervenenden in der schulter des tals begrüßen das bewegen den arm, sie legen die hand auf den tisch zu den knoten, blüten, der nicht zu fassenden luft – 1 fehlen die nebenblätter, fehlen die fasslichen gründe um dich herum und ist so ein verholzenes komplott ein tatort der beschreibung, häutig, rippig, ist so oft der griffel besetzt mit papillen, kapier das, ohne ein anschauen, ausgesetzt allein dem anprall der vokale zwischen haaren, stacheln, lässt sich das verwachsen lässt sich das einheimsen, zipfliger saum samt etwa lanzettlicher spreite, kopier das, im zwittern der laute – 2 finde eiförmige hochblätter, finde heute am wegrand noch die inseln, vieläugig, zweideutig leuchtend, aus welcher nähe wären sie umsegelt, mit welchen händen als seemann verkleidet, wäre das verstanden, paarige beutel und pralle stände, wie gepresst, warst du nicht gestrandet in der ausgesetzten luft, brandiger mund und umschlag von farbe in ware, wahnsinn, wie das weiter heckt und dich mit einem wort: einsträuchert – 3 sag wie nach dem ersten augenübergehen die fäden wandern, sich verbreiten über mauern, zäune, lippen netz aus kleinen explosionen, oder plosiven, probier das als lösung, zier: mundstülpen und brüchige haut oder nach innen fächern, falten, paperflowern, dann folge den namen zur insel zurück, sag solos ist eine sprache die blume plaua nennt, den aufprall kennt auch solches borgen und gepflückte blüten bergen –
7.
Ulrike Meinhof 1934 − 1976 "Ich war, ich bin, ich werde sein".
8.
Karoline von Günderode 1780 − 1806 / Die Töne AGF http://www.wortblume.de/dichterinnen/dietoene.htm Die Töne Ihr tiefen Seelen, die im Stoff gefangen, Nach Lebensodem, nach Befreiung ringt; Wer löset eure Bande dem Verlangen, Das gern melodisch aus der Stummheit dringt? Wer Töne öffnet eurer Kerker Riegel? Und wer entfesselt eure Aetherflügel? Einst, da Gewalt den Widerstand berühret, Zersprang der Töne alte Kerkernacht; Im weiten Raume hier und da verirret Entflohen sie, der Stummheit nun erwacht, Und sie durchwandelten den blauen Bogen Und jauchzten in den Sturm der wilden Wogen. Sie schlüpften flüsternd durch der Bäume Wipfel Und hauchten aus der Nachtigallen Brust, Mit muthigen Strömen stürzten sie vom Gipfel Der Felsen sich in wilder Freiheitslust. Sie rauschten an der Menschen Ohr vorüber, Er zog sie in sein innerstes hinüber. Und da er unterm Herzen sie getragen, Heist er sie wandlen auf der Lüfte Pfad Und allen den verwandten Seelen sagen, Wie liebend sie sein Geist gepfleget hat. Harmonisch schweben sie aus ihrer Wiege Und wandlen fort und tragen Menschenzüge.
9.
10.
Arthur Rimbaud: Die Ewigkeit Sie ist aufgefunden ? Was? – Die Ewigkeit. Meer, das seinen Weg Mit der Sonne geht. Seele ist erwacht, Flüsternd wird beklagt: Nichtig ist die Nacht, Feuer ist der Tag. Menschlicher Entscheid, Was Gemeinden frommt, Mach dich davon frei, Fliege dann davon. Da du einsam bist, Von atlasner Glut, Wortlos haucht die Schuld Dir ein »endlich« zu. Ein Verzweiflungsschritt, Der zu gar nichts führt, Wissend, voll Geduld Sichern Tod zu spürn. Sie ist neu entdeckt. Was? – Die Ewigkeit. Meer, das seinen Weg Mit der Sonne geht
11.
music inspired by Mascha Kaléko
12.
Frau Ava 1060 − 1127 / Dü Inneren Orren − Quio
13.
An Achmatova 

O Muse der Klage, du Schönste der Musen!
 Du loses Gezücht der Nacht, der weißen!
 Den Schneesturm schickst du, den schwarzen, uns Russen,
 Wie Pfeile durchschlägt uns dein Rufen und Schreien.

 Wir weichen zurück mit dumpfem Ach! –
Wir schwören den Eid hunderttausendfach: Anna
Achmatova! Name, der seufzen uns macht;
 Wir stürzen ins Tiefe, ins Unbekannte.

 Dies adelt uns: dass wir mit dir allein
 Unterm selbigen Himmel die Erde betreten! 
Und jener, den's Schicksal, dein tödliches, zeichnet 
Wird sich unsterblich aufs Sterbebett legen.

 Es leuchten die Kuppeln, es singt meine Stadt,
 Der Pilger, der blinde, preist licht den Erlöser …
Dies Moskauer Läuten hab ich dir gebracht, 
– Achmatova! – nimm auch mein Herz nun entgegen. 

19. Juni 1916
14.
Die Macht des Gesanges Ein Regenstrom aus Felsenrissen, Er kommt mit Donner Ungestüm; Bergtrümmer folgen seinen Güssen, Und Eichen stürzen unter ihn. Erstaunt mit wollustvollem Grausen, Hört ihn der Wanderer und lauscht, Er hört die Flut vom Felsen brausen, Doch weiß er nicht, woher sie rauscht: So strömen des Gesanges Wellen Hervor aus nie entdeckten Quellen. Verbündet mit den furchtbar'n Wesen, Die still des Lebens Faden drehn, Wer kann des Sängers Zauber lösen, Wer seinen Tönen widerstehn? Wie mit dem Stab des Götterboten Beherrscht er das bewegte Herz, Er taucht es in das Reich der Toden, Er hebt es staunend himmelwärts, Und wiegt es zwischen Ernst und Spiele Auf schwanker Leiter der Gefühle. Wie wenn auf einmal in die Kreise Der Freude, mit Gigantenschritt, Geheimnisvoll nach Geisterweise, Ein ungeheures Schicksal tritt; Da beugt sich jede Erdengröße Dem Fremdling aus der andern Welt, Des Jubels nichtiges Getöse Verstummt, und jede Larve fällt, Und vor der Wahrheit mächt'gem Siege Verschwindet jedes Wort der Lüge: So rafft von jeder eiteln Bürde, Wenn des Gesanges Ruf erschallt, Der Mensch sich auf zur Geisterwürde Und tritt in heilige Gewalt; Den hohen Göttern ist er eigen, Ihm darf nichts Irdisches sich nahn, Und jede andre Macht muß schweigen, Und kein Verhängnis fällt ihn an; Es schwinden jedes Kummers Falten, So lang des Liedes Zauber walten. Und wie nach hoffnungslosem Sehnen, Nach langer Trennung bitterm Schmerz, Ein Kind mit heißen Reuetränen Sich stürzt an seiner Mutter Herz: So führt in seiner Jugend Hütten, Zu seiner Unschuld reinem Glück, Vom fernen Ausland fremder Sitten Den Flüchtling der Gesang zurück, In der Natur getreuen Armen Von kalten Regeln zu erwaermen. von Friedrich Schiller
15.
Champagner I. Ist dein Leben freudenleer - Trink' Champagner! Ist das Herz von Gram dir schwer - Trink' Champagner! Hast nicht Wunsch noch Thränen mehr - Trink' Champagner! Trink' Champagner! Es bannt die Trauer Der leichte Franzose, der rosig glüht, Jagt die sentimentalen Grillen Aus dem schweren deutschen Gemüth. II. Die lustigen Champagnergeister Die drehen sich jetzt im Kreis Und mir im Kopfe summet Eine seltsam wirbelnde Weis'. Sie glauben, daß ich trunken sei Und wollen mit mir spielen; O hütet euch, im Rausche erst Erwachen die bösen Grillen. Denn wenn ich oft recht toll gelacht, Gescherzt und mich heiser gesungen: Hab' ich zu übertäuben gesucht Meine lauten Erinnerungen. III. »Wie Jener im Rausch noch denken kann?« Ihr meint wohl, daß die Gedanken, So wie die schweren Füße Auch immer knicken und schwanken. Mein Leben ist ein langer Rausch, Und weil ich dabei viel gedacht, So hat mich das viele Denken Zuletzt noch nüchtern gemacht.
16.
17.
Entworfene Gedanken von der Nichtigkeit des menschlichen Lebens und Freudigkeit zum Sterben Wie nichtig ist ein Menschen-Kind? Wie leicht und flüchtig ist sein Leben? Es eilt hinweg, vergeht, verschwindt! Und ist darzu mit Angst, mit Müh und Noth umgeben. Es ist in dieser Lebens-Zeit; Und wärens auch aus Ophir güldne Stücke, Pracht, Ehre, Hoheit, Ruhm und Glücke, Doch warlich nur ein Nichts, und schnöde Eitelkeit. Das Auge hat es kaum gesehen, So weicht es schon zurück, da wir zugleich vergehen. Ist einer ja zu Ehr und Glück, Und grosser Würdigkeit gekommen; So währt es einen Augenblick; So bald der Tod erscheint, wird alles weggenommen. Der Tod sieht gar nicht auf Gewalt, Nicht auf Verstand, auf Munterkeit und Jugend, Auf Reichthum, Schönheit, Kunst und Tugend. Nicht auf Geschicklichkeit, auf Stärke und Gestalt, Die Grossen müssen auf der Erden So wohl als Niedrige dereinst sein Opfer werden. So bald der Herr, der unsre Zeit Und Tage in ein Buch geschrieben, Dem Tode ruft; so wird noch heut Des Leibes fester Bau zerstöhrt und aufgerieben. Hier fällt ein zarter Säugling um; Dort aber muß ein muntrer Jüngling sterben, Hier muß ein Silber-Haupt verderben: Und dort erfährt ein Fürst desselben Zorn und Grim. Hier fällt ein Mann, der Potentaten, Der Kirch und Policey gedient und klug gerathen. Kein Held, kein König und kein Mann Hat sich noch auf der Welt gefunden, Von dem man würcklich sagen kan: Geht! dieser hat den Tod und seine Macht gebunden. Kein Haupt, so weise als es schien, Vermag doch nicht ein Kraut hervor zu bringen, Das diesen Würger könte zwingen. Vergeblich ist der Witz! umsonst ist das Bemühn! Kein Oel kan uns vom Tode waschen; Wir sind von Staub und Koth, drum werden wir zur Aschen. Machst du denn keinen Unterscheid, O Tod! in deinem Niederhauen? O nein! es muß die Niedrigkeit, Und auch der hohe Stand dein Reich beständig bauen. Jedoch was geb ich dir, o Tod! Die Schuld, daß du uns aus der Welt wilst hohlen? Der starke Gott hat dirs befohlen, Ach! du vollziehest nur dem Höchsten sein Gebot. Der Leib muß doch einmahl verderben, Es ist der alte Bund; wir müssen alle sterben. Geliebter Tod! dein Anblick macht Mir nicht das allerkleinste Grauen, Ich habe längst bey mir bedacht: Wenn lässest du mich doch des höchsten Klarheit schauen! Die Welt ist nur ein Marter-Haus; Die Seele wird gedrücket und versuchet, Der Tugend wird auch selbst gefluchet; Drum stösset meine Brust den Seufzer täglich aus: Ich stürbe lieber heut als morgen; So wär ich doch erlößt und frey von allen Sorgen. Ach! solte nicht ein Wanders-Mann Den Abend-Stern mit Lust erblicken! Die Ruhe will ihn ja alsdann Mit ihrer Süßigkeit und neuer Kraft erquicken. So sehn ich mich auch stets nach dir, Weil deine Hand die Thränen von mir wischet, Und mich nach Schweiß und Müh erfrischet. Ich stelle mir die Lust der Patriarchen für. Ein Kind der Wollust mag dich hassen; Ich lasse mich gar gern in deine Arme fassen. Ich hab erfahren und gesehn, Daß diese Welt und ihre Rosen Nur unter lauter Dornen stehn: Sie sucht uns mit Betrug und Schmeicheln liebzukosen. Die Welt ist ein Egyptenland, Wo Dienstbarkeit und Last die Schultern quälet, Wo man betrübte Nächte zehlet. Drum komm geliebter Tod! damit mich deine Hand Von dieser Dienstbarkeit befreye, Und mir in Canaan und Salem Ruh verleihe. Wenn kömmt doch meine Sterbens-Zeit! Wenn kömmt, wenn kömmt Eliä Wagen, Mich zu der höchsten Herrlichkeit, Und zu der Hochzeit-Lust des Lammes hinzutragen! Mein Gott, mir eckelt vor der Welt, Und ihre Lust ist mir zum Abscheu worden. Wenn komm ich doch aus ihren Orden! Wenn werd ich doch einmahl den Engeln zugesellt! Wenn werd ich meinen Heyland sehen, Und in das Paradieß aus dieser Wüste gehen! Ich seh im Geist und Glauben schon Die Krone meiner Ehre bringen. Ich höre vor des Lammes Thron: Schlaf werthe Freundin ein! Komm! liebe Freundin! singen. Ach! wie vergnügt will ich doch seyn, Wenn mir der Tod mein Ende wird vermelden, So komm ich zu den Glaubens-Helden. Wie gerne geb ich doch hier meinen Willen drein. Nun gute Nacht ihr Eitelkeiten! Ich will mich nur zum Tod und seinen Kampf bereite. Sidonia Hedwig Zäunemann (1714-1740)
18.
Else Lasker-Schüler: Mein Liebeslied Auf deinen Wangen liegen Goldene Tauben. Aber dein Herz ist ein Wirbelwind, Dein Blut rauscht, wie mein Blut - Süß An Himbeersträuchern vorbei. O, ich denke an dich - - Die Nacht frage nur. Niemand kann so schön Mit deinen Händen spielen, Schlösser bauen, wie ich Aus Goldfinger; Burgen mit hohen Türmen! Strandräuber sind wir dann. Wenn du da bist, Bin ich immer reich. Du nimmst mich so zu dir, Ich sehe dein Herz sternen. Schillernde Eidechsen Sind deine Geweide. Du bist ganz aus Gold - Alle Lippen halten den Atem an.
19.
Rainer Maria Rilke  (1875-1926) . Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen, aus jeder Wendung weht es her: Gedenk! Ein Tag, an dem wir fremd vorübergingen, entschließt im Künftigen sich zum Geschenk. . Wer rechnet unseren Ertrag? Wer trennt uns von den alten, den vergangnen Jahren? Was haben wir seit Anbeginn erfahren, als das sich eins im Anderen erkennt? . Als dass an uns Gleichgültiges erwarmt? O Haus, o Wiesenhang, o Abendlicht, auf einmal bringst du’s beinah zum Gesicht und stehst an uns, umarmend und umarmt. . Durch alle Wesen reicht der eine Raum: Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still durch uns hindurch. O, der ich wachsen will, ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum. . Ich sorge mich, und in mir steht das Haus. Ich hüte mich, und in mir ist die Hut. Geliebter, der ich wurde: an mir ruht der schönen Schöpfung Bild und weint sich aus.
20.
DIE SCHWERMUTSCHNELLEN hindurch, am blanken Wundenspiegel vorbei: da werden die vierzig entrindeten Lebensbäume geflößt. Einzige Gegenschwimmerin, du Zählst sie, berührst sie alle.
21.
Hermione von Preuschen 1854 − 1918 / Meerleuchten − Pyranja
22.
Perlenfischer Werf mein Kleid über mich wie offenes Wasser, gefärbt vom Licht kleiner Sonnen. Vor jeder Nacht fällt eine vom Himmel, fängt sich in meinem Schoß. Dann fahren unsere Finger wie Schiffchen, knüpfen am Saum Netze zum Grund. Um die Mondwende spielen wir Perlenfang, stillen die Atemnot in der Tiefe.
23.
24.
Octavio Paz 1914 − 1998 / Nachtstück von San Ildefonso I − AGF
25.
26.
Mit allen Gedanken ging ich hinaus aus der Welt; da warst du, du meine Leise, du meine Offne, und - du empfingst uns. Wer sagt, daß uns alles erstarb, da uns das Auge brach? Alles erwachte, alles hob an. Groß kam eine Sonne geschwommen, hell standen ihr Seele und Seele entgegen, klar, gebieterisch schwiegen sie ihr ihre Bahn vor. Leicht tat sich dein Schoß auf, still stieg ein Hauch in den Äther, und was sich wölkte, war's nicht, war's nicht Gestalt und von uns her, war's nicht so gut wie ein Name? Paul Celan
27.
Schwitters, Kurt [1887-1948] Simultangedicht "kaa gee dee" kaa gee dee   takepak        tapekek        katedraale    take           tape           draale        takepak        kek kek        kaa tee dee   takepak        tapekek        kateedraale   take           tape           draale        takepak        kek kek        (all: ) oowenduumir                  kaa tee dee   diimaan        tapekek        kateedraale   diimaan        tape           draale        diimaan        kek kek        diimaan       - - - - - -    diimaan                     diimaan                      (alle: ) aawanduumir             
28.

about

Gedichterbe is a project by AGF (Antye Greie) that investigates German poetry and the heritage of german language within electronic music and society. Starting with the first known female German poet Frau Ava (11th century) till todays "wunderkind" poetess Ann Cotten (born 1982), poets are chosen from the romantic period of the 18th century via jewish poets during 20th century till poets from both Germanys after WW II.

More: gedichterbe.poemproducer.com

BOOKLET TEXT by Text: Christine Lang

Dissonanz, Atonalität, Noise, Unbestimmtheit, Repetition, Verzerrung, Dekonstruktion, Signale, manipuliertes Aufnehmen, Dynamik, Summen, Software, Vokalelemente

Klang und Stimmmanipulation, Komposition, elektronische Dichtung, Digitale Medien, Partizipatorische Kunst


AGF
ich war frustriert
keine kontrolle ueber sound zu haben
ich begann mich fuer elektronische musik zu interessieren (1992)
angefangen habe ich mit commodore 64, dann atari/notator1, dann mac
meistens beginne ich mit einem sample oder klang
gefunden, gesammelt, selbstgebaut
auf max/msp basierenden software patches2 
setze tempo und harmonien fest 
und dann sehr schnell benutze ich stimme, gesang
nehme viele spuren auf, uebereinander
und dann werden die bearbeitet, veredelt, behandelt
mit allen vorstellbaren parametern der audiophysik
dann kommt das softwareschwert
der rhythmus oder nicht-rhythmus 
sinn oder dekonstruierter sinn hineingeschlagen



ASSEMBLAGE

Das Projekt Gedichterbe lässt sich in mehreren Traditionslinien verorten, es kann als literaturhistorisches, als in der Tradition der elektro-akustischen Avantgarde stehendes, zugleich populär club-musikalisches und nicht zuletzt als politisches und spezifisch feministisches Projekt begriffen werden. Diverse Bedeutungszusammenhänge verschränken sich hier: es geht um Sprache, Klang und Musik, aber auch um Geschichte, um welthaltige Bedeutungen und Neukontextualisierungen. Gedichterbe ist eine Art moderne, mediale Assemblage3, in der kuratorische und ästhetische Intentionen und Deutungen aufeinander treffen und sich so miteinander verbinden.
Gedichterbe beschäftigt sich dabei mit vorwiegend deutscher Dichtung im Spiegel zeitgenössischer digitaler Kultur. Ausgewählte Gedichte werden neu vertont, stimmlich interpretiert und musikalisch eingebettet. Auch wenn es - um Henri Chopins4 Feststellung zu folgen - keine zwingend notwendige oder ausschließliche Verbindung zwischen Dichtung und Sprache zu geben scheint, somit auch keine von Dichtung und Musik, berühren sich Dichtung, Sprache und Musik, queren und vermählen sich, und können sich gegenseitig verwandeln.
Kann man die Lyrik von Frau Ava (1060-1127) rappen? Quio (*1971): Ja, man kann.
Das Projekt Gedichterbe steht vollkommen im Heute. Historische Texte werden mit heutiger, digitaler Sound- und Klangästhetik - sowohl stimmlich als auch musikalisch - konfrontiert und in einen neuen Zusammenhang gebracht. Zu hören ist die zeitgenössische Kompositions- und Studiotechnik, in der digitale und analoge Tonspuren übereinander gelagert werden, in der Referenzen zu Clubmusik und Rap gemacht werden, Texte de- beziehungsweise rekonstruiert zudem Sprache und Poesie mit elektronischer Musik kurzgeschlossen werden. Es handelt sich um klangpoetische Remixe.
Über Musik ohne Adjektive sprechen... (Roland Barthes)5
Die vorliegenden musikalischen Kompositionen verbinden sich dabei mit den ausgewählten Gedichten auf eine besondere, vielschichtige Weise. In Gedichterbe drückt sich eine dynamische Kulturkonzeption aus; AGF betreibt quasi künstlerische Hermeneutik: sie interpretiert historische Texte mit künstlerischen Mitteln - aus streng zeitgenössischer Perspektive. AGF betreibt also künstlerische Forschung, einerseits ergründet sie die Sprache und ihre Bedeutungsfelder, andererseits widmet sie sich der Erforschung digitaler Technologien mittels musikalischer Kompositionen und deren Konfrontation mit menschlicher Sprache und dem Sprechen. AGF spricht so mit Musik über Poesie und verwischt die Grenzen von Text und Sound: sie begreift Musik als Lyrik, Lyrik als Sound, und ihre Stimme als Instrument.
AGF ist immer auf der Suche nach Sound- und nach Sprachinnovationen, dabei beschränkt sie sich aber nicht auf das Avantgardeprinzip, selbstreferenziell mit Kunst auf Kunst zu reflektieren, sondern reflektiert, durchaus im Sinne des Pop, das Weltliche. Antye Greie aka AGF ist Sound-Poetin, digital Singer und Songwriterin, Musikproduzentin, Performance- und Medienkünstlerin. Sie verbindet in ihrer Arbeit Sprache, Poesie und Gesang mit elektronischer Musik. Musikalisch rigoros modern, mit anspruchsvoller Cut-Up-Ästhetik, immer mit Bezügen zur Clubmusik, aber weit entfernt vom Easy Listening des Populären, werden die oft roughen, digitalen, repetitiven Kompositionen durch den Einsatz ihrer und anderer Stimmen weich und menschlich. Die Ästhetik des Maschinell-Digitalen trifft auf den menschlich-körperlichen Geno-Gesang (Barthes), in dem die Bedeutungen aus dem Inneren der Sprache selbst, aus ihrer Materialität entstehen. Es ist das spezifische Interesse an der Verbindung von Sprache und Stimme, dem Abarbeiten an den Strukturen der Sprache, der entstehenden Reibung von Digitalität und Körperlichkeit, die die Soundkünstlerin und Poetin AGF interessieren. So sind in ihren Poems immer auch Geräusche des Körperlichen – sozusagen menschliche Fehler - zu hören: Atem, Füllwörter, Wortteile und abgerissene Wörter.


GEERBTE GEDICHTE

Für Gedichterbe sprechen, vertonen und remixen AGF und ihre Kollaborateurinnen Lyrik quer durch die Literaturgeschichte. Der Schwerpunkt der Auswahl liegt auf deutschsprachigen Gedichten, das Spektrum reicht dabei von einem Gedicht der ersten deutschen Dichterin Frau Ava aus dem 11. Jahrhundert über die Klassikerinnen und Heldinnen der Lyrikgeschichte: von Friedrich Schiller, Rainer Maria Rilke, Paul Celan über die Romantikerinnen, die vergessenen Dichterinnen des zwanzigsten Jahrhunderts - vor allem in der DDR, den jüdischen Dichterinnen Else Lasker-Schüler, Nelly Sachs, Mascha Kaléko bis zu zeitgenössischen, experimentellen Dichterinnen wie Uljana Wolf und Ann Cotten. Mit Christa Wolf und Ulrike Meinhof sind darüber hinaus zwei Frauen vertreten, die im strengen Sinne keine Lyrikerinnen sind. Die Anthologie lässt sich insofern als persönliche Hommage und Referenz lesen. Die Zusammenstellung ist aber nicht nur ein persönliches Mosaik der Literaturgeschichte, sondern sie will auch Statement sein: Implizit fordert sie zu einer neuen Lesart der Geschichte, zu einer neuen weiblichen Geschichtsschreibung auf. Die Auswahl der vertretenen Dichterinnen entfaltet dabei diverse innewohnende Diskurse über kulturelle und geschlechtliche Identität, das Deutschsein, die DDR und Heimatlosigkeit. Es sind Diskurse, die eng mit der Identität und Arbeit von AGF verwoben sind.

AGF: ganz persönliches betrachten, das ist heutzutage fast ein tabu

Bettina von Arnim: Nichts ist's, was mir den Blick gefesselt hält.

In der Auswahl der Gedichte überwiegen Inhalte, die humanistisch orientiert sind, und hierin reflektiert sich die gewohnte Arbeitsweise von AGF, ihre digitalen, gegenüber tradierten Hörgewohnheiten manchmal brüsk wirkenden Klangkompositionen immer in einem menschlichen Kontext zu denken und zu verhandeln. In den Gedichten werden „viele Worte gemacht“, die um Gefühle, um den reinen Ausdruck und Sprachschönheit kreisen. Liebe, Tod und Ewigkeit - Schlüsselbegriffe der Romantik, die ja eng mit der deutschen Sprache verbunden ist - sind bei AGF keine verbotenen Worte. So sind auf Gedichterbe auch die beiden wichtigsten Vertreterinnen der deutschen Romantik zu finden: Bettina von Arnim (1785-1859) und Karoline von Günderode (1780-1806). AGF spricht Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt! mit Emphase selbst und bettet ihn zugleich auf die Sounds eines digital-klickenden Beatgewitters. AGF nimmt sich die Freiheit, die Gedichte radikal in die sonische Gegenwart zu holen, wie als Beweis dafür, dass alte Sprache trotz aller historischer Distanz aktuell sein und wirken kann – und soll.
So scheint das Gedicht Toene von Karoline von Günderode die Erklärung für das künstlerische Verfahren der vorliegenden CD-Edition zu geben: AGFs eigenwillige Sounds sind als kongruente Übersetzung des Freiheitsdrangs Bettina von Arnims und anderer Romantikerinnen in eine ästhetische, eine musikalische Kategorie zu verstehen:
Wer Töne öffnet eurer Kerker Riegel? Und wer entfesselt eure Aetherflügel?
AGF teilt mit den deutschen Romantikerinnen nicht nur einen großen Freiheitsdrang in Bezug auf ihr künstlerisches Schaffen, sondern sowohl deren Hinwendung zu Humanismus, Prozesshaftigkeit und Vermischung verschiedener Formprinzipien. „Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann.“ schreibt Friedrich Schlegel6 über die romantische Poesie als synästhetisch alle Sinne ansprechende „progressive Universalpoesie“. Er fordert für die romantische Poesie das Ausbrechen aus dem engen Regelkorsett: „Sie umfaßt alles, was nur poetisch ist, vom größten wieder mehrere Systeme in sich enthaltenden Systeme der Kunst bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosem Gesang.“ Insofern ist AGFs angetretenes Erbe in mehrfacher Hinsicht zu verstehen, nicht nur in Bezug auf die Gedichte, sondern auch hinsichtlich ästhetischer Verfahrensweisen, die mit ihnen assoziiert sind.

Karoline von Günderrode: Die Männlichkeit und die Weiblichkeit, wie sie gewöhnlich genommen werden, sind Hindernisse der Menschlichkeit.
AGF: ich selber bin geschlechtlos aufgewachsen


KOLLABORATIONEN

Die kuratorische Entscheidung und die damit einhergehende Intention, ein Schlaglicht auf weibliches Kunstschaffen zu setzen, wird dadurch verstärkt, dass die gewählten Gedichte von ausgesuchten, zeitgenössischen Musikerinnen und Kolleginnen gesprochen werden. AGF hat dabei bewusst nicht „Stimmen“ ausgewählt, sondern Künstlerinnenpersönlichkeiten, die die vorliegenden Texte eigenständig interpretieren. Das hier vereinte Ensemble repräsentiert dabei die heute relevantesten deutschen Elektronikkünstlerinnen aus der experimentellen Clubkulturszene. Alle Vertreterinnen setzen sich in ihrer Arbeit entweder mit elektronischer Musik und/oder mit Sprache auseinander. Die unterschiedlichen künstlerischen Zugänge zur Musik, beziehungsweise die Zugehörigkeit der Musikerinnen zu jeweils einem anderen musikalischen Genre werden von AGF aufgegriffen und zum Inspirationsgeber der musikalischen Komposition. Stehen die Kompositionen immer im Verhältnis zu den Gedichten, so stehen sie bei den Kollaborationen eben auch im Verhältnis zu den Musikerinnen. Um einige Beispiele zu nennen: Die Musik zu Günderodes Sturmesweib steht durch eine Art verspielter „Wohnzimmerelektronik“ mit deepen Beat und catchy Melodie in einem aussagekräftigen Verhältnis zur Interpretin Gudrun Gut, die zu den einflussreichsten Repräsentantinnen und Vorbildern der deutschen Musikavantgarde und Undergroundmusik zählt, und die in den neunziger Jahren mit ihrem Label Monika Enterprise die Berliner Wohnzimmermusik „erfand“. Hermione von Preuschens Meerleuchten wiederum wird von der deutschen Rapperin Pyranja gesprochen. Ihr lässiger, aus dem Hiphop kommender Style steht einerseits in interessantem Gegensatz zur Romantik des Gedichts: Tief ist die Nacht und tausend Sterne leuchten..., wird aber kongenial aufgefangen und umrahmt durch ein für Rap ideal geeignetes bpm-Tempo7 und einem untermalenden, mehrstimmigen Gesang, der jedoch immer zurücktritt, wenn der Text bedeutsam wird. Frau Ava „die älteste mit Namen bezeugte Dichterin in deutscher Sprache“ dagegen erhält durch die Interpretation der Berliner MC Quio einen an Soundsystemculture8 angelehnten bassigen, aber dieser Sprachmusikerin und Rapperin angemessenen verspielten Offbeat. Anders bei Ellen Allien: die Techno-DJ und Produzentin spricht Ada Christens Champagner 1-3 soft und schlicht zu einem minimalen, metrisch strengen Tech-Beat – was im übrigen sicherlich nicht ganz ohne Ironie gemeint ist, diesen Text über das Leben „als langen Rausch“ mit der Technokultur zu assozieren:

Ada Christen (1839-1901): Ist dein Leben freudenleer - Trink' Champagner!



MUSIK, SOUND, KLANG

Wolfgang Ernst (*1959)9: Klang ist komplex wie ein Wort, zusammengesetzt aus Einzeltönen.

Gedichterbe kann wie ein Hörspiel rezipiert werden, denn es werden Geschichten erzählt. Nur weiß man manchmal nicht, was die Erzählung führt: das Gedicht oder die Musik? Stellenweise verwehen die Worte in der Musik, mal gibt es gar keine, mal wird den Spoken Words der Raum komplett überlassen. Dieser Eindruck der Gleichwertigkeit sprachlicher und musikalischer Mittel reflektiert den künstlerischen Entstehungsprozess, in dem manchmal die Vocalists oder die Gedichte und manchmal die Beats den Ausgangspunkt für die Gesamtkomposition bilden. Dabei ist das Ergebnis provokativ modern: Atmosphären und Aussagen der Gedichte werden nicht nur musikalisch aufgegriffen und mitgetragen, sondern auch konterkariert oder sogar gestört. Und das Klangspektrum ist für eine Gedichtvertonung außergewöhnlich: AGFs Sound - ob Fieldrecording oder computergeneriert - ist synkopisch oder metrisch Beat-orientiert und innerhalb der Beats knirscht, klimpert, rauscht, harzt und knistert es - mal streng, mal harsch, mal warm - bis hin zum Digit-Noise. Mal sind die Sounds referenziell bedeutungsvoll, ein anderes Mal verweisen sie ausschließlich auf ihre physikalische Existenz. Aber immer sind sie eindrucksvoll präsent und dicht produziert - und sie richten sich nicht nach den tradierten musikalischen Genres aus.

Gedichterbe kann wie ein Film gehört werden. Bei einigen Stücken verhält es sich mit der Musik wie im narrativen Film, die Musik ist Score. Im filmischen Soundtrack drückt sich immer auch die auktoriale Instanz aus; im Filmischen beschreibt die Musik immer auch das Verhältnis, welches zwischen dem Wissen der Erzählinstanz und dem einer Figur existiert. Und es ist ein besonderes Verhältnis zwischen AGF, dem Lyrischem Ich der Gedichte und den Dichterinnen; die Musik bildet nicht nur ein Klangbett für die eingesprochene Gedichte, sondern sie ist ein zur Gesamterzählung dazugehörender Kommentar und offenbart dabei ganz deutlich die Perspektive aus dem technologisch geprägten 21. Jahrhundert. Die Musik auf Gedichterbe sind keine Songs, sondern es sind Tracks. Der Trackmodus ist in seiner besonderen Ästhetik das Konzept der Gegenwart und grenzt sich von anderen Kompositionsmodi, vor allem der Songstruktur, ab. Es handelt sich um rhythmusbetonte Pattern-Musik, die sich mit der „Patternhaftigkeit“ der Lyrik - gegenüber dem Dramatischen oder Epischen – in idealer Weise  verbinden kann - und es auf Gedichterbe auch tut.

Der Begriff Track entstammt sowohl der DJ-/Clubculture als auch der elektro-akustischen Musikavantgarde. Hier treffen sich die beiden Traditionslinien, in denen AGFs Musik zu verorten ist, ebenso wie in deren Auffassungen von Sound und Klang als wesentliche Kategorien des musikalischen Komponierens.

Beiden, den in der Club- und den in der Avantgardemusik in vielen Dingen völlig unterschiedlich funktionierenden Ansätzen gemein ist im übrigen der Einspruch gegen eine rückwärtsgewandte bürgerliche Ästhetik. Und an diese Haltung schließt AGFs Sound nicht nur an, sondern er intensiviert sie: Jedweden tradierten Hörgewohnheiten machen es ihre Kompositionen schwer; sie sind weder ausschließlich an die Ernsthaftigkeit der Avantgarde, noch an die Codes der Popkultur, des Hiphop, noch an literarisch interessierte Gedichtgourmets adressiert. Somit erschaffen nicht nur AGFs Musik, sondern auch ihre Sound Poems ihre eigenen, neue Codes.


Yoko Ono,  Eliane Radigue, Poesiealbum, Letterism, Musique concrète, Aphex Twin, Laurie Anderson, Marianne Amacher, Photek, John Cage, Rap, Maja Ratkje, Raster-Noton,  Stockhausen, Iannis Xenakis, Mille Plateaux, Merzbow, Dada


das Spiel mit MUSIK UND Sprache

G.W.F. Hegel (1770-1831): Mit der Musik hat (...) die Poesie als äußerliches Material das Tönen gemeinschaftlich.

Friedrich Schiller (1759-1805): Wer kann des Sängers Zauber lösen, Wer seinen Tönen widerstehn?...

Musik und Sprache verbinden sich auf Gedichterbe in vielfältiger Weise, mal als ideale Übersetzung ein und derselben ästhetischen Idee, also eine Art der Anverwandlung zweier Medien, mal stehen sie in einem gewagten Spannungsverhältnis. Am größten ist die Irritation und Reibung vielleicht bei Friedrich Schiller und seinem Gedicht Die Macht des Gesangs. Diesem klassischen Dichter, der sich selbst zu seiner Zeit als Sprachmusiker begriffen hat, wird eine radikale Vertonung entgegengesetzt: ein provokantes, digitales Gewehrsalvenstakkato, das austestet, ob die damalige Auffassung von Sprachmusikalität in der heutigen digitalen Ästhetik noch aufgehoben sein kann. Und ähnlich wie Frau Avas mittelhochdeutsche Texte als Rap eine spezielle musikalische Ästhetik entfalten, wirken Schillers Sturm-und-Drang-Worte im digitalen Kontext bestechend schön. AGF hat dabei nicht nur historische, sondern auch zeitgenössische Gedichte aufgenommen. Mit Uljana Wolfs Drei Bögen und Ann Cottens Rosa Meinung hat sie zwei Gedichte gewählt, die ihrem musikalischem Umgang mit Sprache sehr entgegenkommen. Und diese Gedichte zeigen, dass es auf Gedichterbe keine klare Hiercharchisierung zwischen Musik und Sprache gibt:

Ann Cotten (*1982):
In des Landsgerichtes Fotze geh ich als ein blasser Traum.
Frau ist alles, was ich kotze, lauter Wahrheit dieser Raum...

Uljana Wolf (*1979):
vertüpfelter morgen, wie er unterm nebel aufsteigt
wies unterm löschblatt durchweicht, wasserfarben
hang aus blattspitzen und hang zu zipfelndem tüll...

Morphem-lyrik

Diese Gedichte sind Sprechlyrik, es sind Vokalwerke - sie wollen gesprochen werden. Diese Sprache, die Themen umkreist und Bilder zeichnet, entzieht sich immer wieder einer greifbaren Bedeutung und Sinnhaftigkeit. Die Worte richten sich auch nicht zwingend an innere Vorstellungsbilder, wie klassische Poesie es gerne tut, sondern sie arbeiten an der Sprache selbst, und ihre wahre Bedeutung wird durch den Klang der Wörter modifiziert. Die Sprache baut dabei auf die Musikalität der Vokale. Diese Lyrik bewegt sich im Feld zwischen Sprache und Musik, und in der Annäherung der Sprache an den Gesang. Diese Lyrik fasziniert durch die Präzision und das Formbewusstsein, mit der die deutsche Sprache im Fadenkreuz aller Weltsprachen ausgelotet wird, durch ihr Spiel mit Syntax und Semantik, Takt und Klang. Aber dennoch ist es keine reine intransitive „Labordichtung“10, sondern verweist durch ihre Ästhetik auf die Gegenwart: Zum einen hat auch sie das Metrum des Tracks, der tendenziell in eine Unendlichkeit deutet, und dazu wirken sie pointillistisch, lassen die Ästhetik der stenotypischen Kürzelkonstrukten des Internets anklingen, und wirken wie das Resultat einer Transfer-Ästhetik quer durch die Kulturen und durch alle Medien.

AGF:
ich funktioniere selbst wie ein sample, nur eben mit sprache und worten

TRANSITIVITÄT

Aus der künstlerischen Ästhetik AGFs und der vertretenen Künstlerinnen spricht ein Widerstand nicht nur gegen allzu Populäres, sondern auch gegen Kulturkonservativismus und jeglich Normatives. So ist es durchaus auch als ein politisches Statement zu verstehen, dass einige Gedichte provokativ ganz ohne ihre Worte vertreten sind. Die Gedichtvertonungen von Christa Wolf (*1929) Edeltraut Eckert (1930-1955) und Heidemarie Härtl (1943-1993) sind nur in musikalischer Übersetzung präsent. Es handelt sich dabei um eine Art Kassiber, in denen sich zweierlei Botschaft verbergen: AGF (*1969) ist in der DDR, einem von der Landkarte verschwundenen Land, aufgewachsen - in einem Land, wie sie sagt, in dem es keine Meinungsfreiheit gab, aber den tiefsitzenden Wunsch sich anders auszudrücken - eben über Poesie, Verdichtung und Verschlüsselung. In der DDR gab es Codes, die als Künstlerin eingehalten werden mussten, und dieses Denken und sich Artikulieren in Chiffren hat offenbar bis heute Einfluss auf die Text- und Musikproduktionen AGFs. Damit wird die Machinenmusik, das Klingeln, die spooky Beeps aus dem All, der Rhytmus einer Atemmaschine, das in den Höhen zwingend laut werdende Fiepen in Heidemarie Härtl und der erbarmungslose, rückwärts klingende Takt in Christa Wolf zu Panoramen der Endzeit einer untergehenden Diktatur und zu Insignien dafür, dass diese DDR-Dichterinnen entweder keine Chance auf Veröffentlichungen besaßen, oder eben Staatsdichterinnen zu sein hatten. Edeltraut Eckert war bei ihrer Verhaftung zwanzig Jahre alt und verstarb nur fünfundzwanzigjährig im Arbeitslager; ihre Texte blieben lange unbekannt, und in kaum einem anderen Stück auf Gedichterbe wird die politische Haltung der Kuratorin und Musikerin so explizit wie in den „wortlosen Gedichten“ der vergessenen Dichterinnen der DDR.
So sind diese Audiopoems eine Art Verweis auf eine Leerstelle der Geschichte. Gleichzeitig lässt sich aus ihnen das Konzept dieser CD erschließen: Sprache und Musik ergänzen sich in idealer Weise und können füreinander einspringen. Gedichterbe ist ein bestes Beispiel eben dafür, wie sich Dichtung, Sprache, Deutung und Musik berühren und sich gegenseitig ineinander verwandeln...


AGF:
als mein heimatland verschwand
kam das internet, die rettung
fuer eine weile habe ich mich dort zurueckgezogen
und mir eine neues betriebssystem installiert

credits

released June 14, 2011

all music by Antye Greie aka AGF
all lyrics by respective poet in the title of the track
some interpreations by various
production, mastering, calligraphy by AGF
original CD artwork by alorenz

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AGF ✸ poemproducer ✸ Antye Greie-Ripatti Hailuoto, Finland

audio sculptress performing as AGF, poetess and new media artist Antye Greie-Ripatti utilises language, sound, politics & explores speech within the audible depths of anti-rhythmic post-internet assemblages @poemproducer *

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